Bewährungshilfe:
Chance für Gestrauchelte

[1978]
Eine Chance für Gestrauchelte

»Die Mutter hat immer geglaubt, sie tut mir etwas Gutes, wenn sie mir Prügel gibt, aber sie hat das Gegenteil erreicht«. So äußerte sich ein jugendlicher Rechtsbrecher, den Bert Breit bei seinen Recherchen über Bewährungshilfe interviewte.

Breit, der in den letzten Jahren für Funk und TV, auch für »horizont« eine Reihe von Beiträgen über Außenseiter der Gesellschaft, über rauschgiftsüchtige Jugendliche, über Heimerziehung und Körperbehinderte verfaßte, ist überzeugt, daß die Bewährungshilfe heute die einzige Möglichkeit sei, straffälligen Jugendlichen den Weg »zurück« zu ermöglichen. Breit setzt sich im folgenden Beitrag mit der historischen Entwicklung der Bewährungshilfe auseinander und schreibt über die Praxis der heutigen Bewährungshelfer.

 

 

Die größte Schwierigkeit ist für sie die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber Gestrauchelten. Bei mehr Verständnis hätten es die Versager – so der Autor – »etwas leichter … in dieser Gesellschaft zu überleben«. Die Bewährungshilfe ist keine Erfindung radikaler Linker – wie viele gerne bereit sind, anzunehmen; sie ist auch keine Erfindung weltfremder Idealisten, wie manche vermuten.

Die Bewährungshilfe »erfand« im Jahre 1841 der Schuhmacher John Augustus aus Boston. Augustus hatte die Erkenntnis: Es kann nicht der Zweck des Gesetzes sein, gehässig oder rachsüchtig zu strafen, vielmehr soll das Gesetz dazu dienen, Verbrecher zu bessern und Verbrechen zu verhüten. Schuhmacher Augustus setzte diese Erkenntnis in die Praxis um, indem er bei Gericht Sicherheit für Angeklagte leistete, die er für besserungsfähig hielt. Einsichtige Mitbürger halfen ihm, diese Idee auszubauen; fast 2000 Rechtsbrechern blieb das Zuchthaus erspart, sie standen unter Bewährungshilfe und wurden in Freiheit, ohne Zwangsmaßnahmen betreut.Ein Teil dieser Rechtsbrecher konnte erfolgreich resozialisiert bzw. sozialisiert werden.

Nicht nur in Amerika, auch in England machte man sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Gedanken darüber, ob es nicht besser sei, Tätern zu helfen, anstatt diese durch Freiheitsentzug zu bestrafen.

Im Jahre 1892 legte der Vater der soziologischen Rechtstheorie, der Österreicher Franz von Liszt, anläßlich eines Vortrags vor der Juristischen Gesellschaft in Budapest seine grundlegenden Erkenntnisse dar – Erkenntnisse, die schon damals zur Entwicklung zumindest bewährungshilfeähnlicher Einrichtungen hätten führen müssen. Franz von Liszt erklärte: »Die Freiheitsstrafe dient nicht der Bekämpfung der Kriminalität, sondern fördert diese eher!« Das Ergebnis von Untersuchungen über Rückfallzahlen faßte Franz von Liszt in folgenden Sätzen zusammen:

1. Die Wahrscheinlichkeit, daß jemand ein Verbrechen begeht, ist größer, wenn er bereits bestraft ist, als wenn dies nicht der Fall ist.

2. Die Wahrscheinlichkeit, daß jemand ein Verbrechen begeht, wächst mit der Zahl der erlittenen Vorstrafen.

3. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein aus der Strafe Entlassener in kürzester Frist ein neues Verbrechen begeht, wächst mit der Dauer der gegen ihn vollstreckten Vorstrafen.

»Unsere Strafen wirken nicht bessernd und nicht abschreckend, sie wirken überhaupt nicht präventiv, das heißt, von Verbrechen abhaltend, sie wirken vielmehr geradezu als eine Verstärkung der Antriebe zum Verbrechen.«

Entwicklung der Strafgesetzgebung

Die Lehren Franz von Liszts, deren Basis die grundsätzliche Erkenntnis war, daß es keinen geborenen Verbrecher gibt, beeinflußten die Entwicklung der österreichischen Strafgesetzgebung. Im Jahre 1912 wurde im Herrenhaus ein Gesetzesentwurf eingebracht, der die Schutzaufsicht für bedingt verurteilte Jugendliche vorsah, eine Maßnahme also, wie sie schon seit Jahrzehnten in England praktiziert wurde.

Der Ausbruch des ersten Weltkriegs allerdings verhinderte die Behandlung dieses Gesetzentwurfes im Abgeordnetenhaus. Im Jahre 1920 schließlich wurde das Gesetz über die bedingte Verurteilung von der Nationalversammlung beschlossen, ein Gesetz, das bei bedingtem Strafnachlaß und bei bedingter Verurteilung in einzelnen Fällen die Schutzaufsicht vorsah.

Täter, die unter 18 Jahren waren, mußten die Gerichte auf jeden Fall unter Schutzaufsicht stellen. Allerdings – in der Praxis war diese Schutzaufsicht kaum je eine Hilfe für die Betroffenen: denn die in der Jugendfürsorge tätigen Ämter, Körperschaften, Gesellschaften und Personen, die mit der Durchführung der Schutzaufsicht betraut wurden, waren meist nicht fähig und nicht gewillt, zu helfen, sie übten lediglich die Kontrolle aus.

Auch das Jugendgerichtsgesetz vom Jahre 1928 hat zwar den Abbau der Strafe und den Aufbau von Ersatzeinrichtungen als Ziel – als wichtigste Neuerung wurde die Errichtung von Bundesanstalten für Erziehungsbedürftige vorgeschlagen –, aber alle Strafrechtsreformen verfehlen ihren Zweck, wenn diese Reformen von ungeeigneten, fachlich nicht gebildeten Personen durchgeführt werden.

Heimerziehung – das bedeutete für viele jugendliche Delinquenten etwa nicht, daß sie erzogen worden wären; das bedeutete, daß sie auf andere Weise bestraft, unterdrückt und kriminalisiert wurden. Erfolgreiche Resozialisierung durch Heimerziehung war also kaum zu erreichen.

Im Jahre 1957 entstand auf privater Ebene die Arbeitsgemeinschaft Bewährungshilfe, die sich zur Aufgabe stellte, Erfahrungen bei der Betreuung jugendlicher Straftäter zu sammeln und Modelle für die erfolgreiche Resozialisierung zu entwickeln. Psychologen, Psychoanalytiker, Sozialarbeiter und Erzieher arbeiteten zusammen und bekannten sich von Anfang an zur Methode der Einzelfallhilfe (case work), und als im Jugendgerichtsgesetz 1961 die moderne Bewährungshilfe gesetzlich verankert wurde, konnte man auf den Erfahrungen der Arbeitsgemeinschaft aufbauen.

Der Paragraph 19 des Jugendgerichtsgesetzes besagte, daß »bis zur Erlassung eines Bundesgesetzes über Bewährungshilfe zur Bewährungshilfe freiwillige, ehrenamtliche Helfer heranzuziehen sind«. Daher konnte der Gesetzgeber nicht im eigenen Rahmen eine Organisation für Bewährungshilfe einrichten.

Man griff zur Hilfskonstruktion eines Vereines. So ging aus der ursprünglichen Modelleinrichtung der »Verein für Bewährungshilfe und soziale Jugendarbeit« hervor. Für die Betreuung der einzelnen Fälle erhielten die ehrenamtlichen Bewährungshelfer eine Aufwandsentschädigung.

1964 erhöhte das Bundesministerium für Justiz die bisher geleisteten Subventionen erheblich und betraute den Verein mit dem Auf- und Ausbau der Bewährungshilfe in ganz Österreich (mit Ausnahme der Steiermark). Seit Herbst 1964 werden die hauptamtlichen Bewährungshelfer, die keine Fürsorgeausbildung haben, intensiv während der Berufsausübung geschult. Dieses sogenannte In-Service-Training macht die Bewährungshelfer mit den juristischen, psychologischen, psychiatrischen und pädagogischen Problemen ihres Berufs vertraut. Mit einer Dienstprüfung endet diese Ausbildung.

Der Richter, der die Bewährungshilfe anordnet, hat – im Gegensatz zur deutschen Rechtspraxis – kein Recht, dem Bewährungshelfer Weisungen zu erteilen. Der Richter hat bloß die Möglichkeit, den Bewährungshelfer abzuberufen und einen neuen zu bestellen, wenn seiner Ansicht nach die Führung der Bewährungshilfe nicht dem Sinn des Gesetzes entspricht.

Vertiefte Einzelhilfe

Welche Pflichten hat der Bewährungshelfer?

Er hat über den Lebenswandel des Rechtsbrechers und über die Erfüllung der erteilten Weisungen (des Richters) zu wachen. Er hat sich mit Rat und Tat darum zu bemühen, ihm zu einer Lebensführung und zu einer Einstellung zu verhelfen, die Gewähr dafür bieten, daß der Rechtsbrecher in Zukunft keine weiteren mit Strafe bedrohten Handlungen begehen werde. Soweit es dazu nötig ist, hat er Versuchungen vom Rechtsbrecher fernzuhalten und ihm zu helfen, eine geeignete Unterkunft und Arbeit zu finden. Außerdem hat der Bewährungshelfer dem Gericht in angemessenen Zeitabständen über seine Tätigkeit und seine Wahrnehmungen zu berichten.

Die Arbeitsmethode des Bewährungshelfers ist die der vertieften Einzelhilfe.

Zwischen dem Probanden und seinem Helfer entsteht zunächst eine sachliche Beziehung, die zu einer mitmenschlichen, sozialen Beziehung weiterentwickelt werden muß. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, daß der Proband nicht etwa bevormundet wird, sondern durch eigene Kraft und selbständige Entscheidungen seine Resozialisierung mitbestimmt.

Der Bewährungshelfer muß seinen Probanden in allen seinen Lebensäußerungen verstehen, es ist nicht seine Sache, zu urteilen oder zu verurteilen. Nur so kann er das Vertrauen seines Schützlings gewinnen und mit ihm gemeinsam die Vergangenheit aufarbeiten. Einmal pro Woche kommen die Bewährungshelfer zu Teambesprechungen zusammen, um Probleme, die bei der Betreuung auftauchen, gemeinsam zu besprechen. Wenn es erforderlich ist, werden Probanden auch von Psychiatern und Psychologen, die bei der Bewährungshilfe mitarbeiten, betreut.

Psychologen stehen dem Bewährungshelfer auch als Ratgeber zur Verfügung, falls dieser ihn zur Klärung von Schwierigkeiten, die sich beim Aufbau seiner Beziehungen zum Probanden ergeben können, benötigt. Es ist ganz selbstverständlich, daß der Bewährungshelfer seinen Probanden auch bei der Wohnungs- und Arbeitssuche unterstützen muß. Gerade diese Tätigkeit nimmt oft viel Zeit in Anspruch und scheitert an den Vorurteilen der Öffentlichkeit. An Vorurteilen, die von Unwissenheit und Angst geprägt sind. Leider hat die Sozialarbeit im allgemeinen – so auch die Bewährungshilfe – bisher wenig dazugetan, die Öffentlichkeit über die Schwierigkeiten un Erfolge ihrer Tätigkeit aufzuklären. Dabei könnte gerade die Bewährungshilfe mit statistischen Zahlen aufwarten, die beeindruckend sind: Eine Rückfallstatistik vom April 1977, die das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriminalsoziologie erstellte, hat ergeben:

Beeindruckende Erfolge 71, 4 Prozent der betreuten Fälle wurden positiv abgeschlossen (darunter waren auch Probanden, bei denen es zu einem leichten Rückfall kam, die aber nach Verlängerung der Probezeit positiv abgeschlossen werden konnten; bloß bei elf Prozent der Probanden kam es nach Verlängerung der Probezeit zu einem Widerruf).

Zwölf Prozent der Fälle sind noch nicht abgeschlossen (das heißt, die Probezeit wurde nach einem leichten Rückfall verlängert– die Bewährungshilfe dauert noch an).

Bei 16,6 Prozent der Probanden war die Bewährungshilfe erfolglos, das heißt, es kam zum Widerruf oder zur Aufhebung der Bewährungshilfe wegen Rückfalls sowie zu einer unbedingten Freiheitsstrafe.

Diese Untersuchung bezog sich auf 1222 Probanden.

Dank der Tätigkeit der Bewährungshilfe blieb ca. 1000 dieser jugendlichen Straftäter ein Gefängnisaufenthalt erspart. Diese Zahlen werden gerade jenen kaum imponieren, die auch heute noch – wider alle Erfahrung – für die strengere Bestrafung und für längeren Freiheitsentzug eintreten. Allen jenen sollte man die Worte des großen österreichischen Rechtsreformers in Erinnerung rufen, die dieser vor nunmehr fast 90 Jahren aussprach:

»Wir bestreiten, daß es einen geborenen Verbrecher gibt. Wir müssen das Verbrechen auffassen als notwendiges Produkt der den Verbrecher umgebenden Gesellschaft und der wirtschaftlichen Verhältnisse einerseits und als Eigenart der Individualität des Verbrechers andererseits, welche teils angeboren, teils durch Entwicklung der Lebensschicksale erworben ist. Wenn wir zugeben, daß das Individuum nach der verschiedenen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen es lebt, sich verschieden entwickeln kann, so ist es klar, daß wir auch imstande sind, den durch die erbliche Belastung gebildeten Keim, den Hang zum Verbrechen, zu bekämpfen. Wie oft ist es schon gelungen, ein Kund tuberkulöser Eltern, in dem der Keim dieser Krankheit schon vorhanden war, durch rechtzeitige und sorgfältige Pflege zu retten! Wenn es gelingt, hier den Keim der Krankheit zu unterdrücken, warum sollte dies in anderen Fällen nicht gelingen, warum sollte es nicht möglich sein, die Neurasthenie durch kräftige, zielbewußte Einwirkung zu bekämpfen? Ist dies aber möglich, dann schwindet der Typus des homo delinquens, des geborenen Verbrechers, der mit Naturnotwendigkeit infolge seiner angeborenen Eigenart zum Verbrecher wird.«

Gewiß – wir wissen heute viel genauer über die eigentlichen Ursachen der Kriminalität Bescheid. Aber es wäre schon viel getan, wenn wenigstens der liberale, soziologische Standpunkt Liszts der Öffentlichkeit ins Bewußtsein gebracht werden könnte; dann hätten es all die Chancenlosen, die Außenseiter, die Verfolgten und Versager leichter, sich zu resozialisieren; sie hätten es etwas leichter, in dieser Gesellschaft, von der sie zu dem gemacht wurden, was sie sind, zu überleben.

 

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