Mißratene Zucht

[1979]
Die Welt des Kindes im »Jahr des Kindes«

Mit Festreden, Symposien, Preisausschreiben und dergleichen mehr begeht man gerade das »Jahr des Kindes«.

Die reale Welt des Kindes gibt zu Feiern keinen Anlaß. Um dies festzustellen, muß man noch nicht einmal dorthin gehen, wo noch immer Kinder massenhaft verhungern, wo es noch immer Kinderarbeit statt Schulen gibt.

Ein Bericht von Bert Breit.

Nie noch in der Geschichte der Menschheit ist mehr Theorie in Sachen Erziehung erarbeitet worden als in unserem Jahrhundert: nie wurde mehr Wissen über die Seele des Kindes, über Entwicklungsbedingungen und Bedürfnisse Jugendlicher zusammengetragen; noch nie in der Geschichte hat man »Kindheit« – offiziell – so sehr unter Schutz gestellt, hat man »erziehen« so ernst genommen wie heute. Und dennoch klappt's nicht bei der Aufzucht unserer Kinder, dennoch läuft es in der Praxis ganz anders, als es sich die Theoretiker und Experten in Sachen Erziehung vorstellen: Immer größer wird die Zahl jener Kinder, die mit sich und ihrer Umwelt nicht fertig werden; sie schaffen es nicht, zu leisten, was von ihnen gefordert wird, sie leiden unter Depressionen und vielfältigen Ängsten, sie reißen aus, sie isolieren sich, sie greifen zur Alkoholflasche, sie schlucken Drogen, sie randalieren, stehlen, sind gewalttätig, rauchen sich ein; mehr und mehr Jugendliche versuchen, ihrem Leben, das sie als sinnlos und unerträglich empfinden, ein Ende zu setzen.

»Die zwölfjährige Annemarie schwänzte zwei Wochen die Schule; dann sprang sie – vermutlich aus Angst vor den Folgen in der Schule – aus dem Fenster der elterlichen Wohnung im 2. Stock in den Hof. Mit schweren inneren Verletzungen wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert.«

»Anläßlich einer Rauferei, die sich konkurrierende Jugendbanden in der Vorstadtdiskothek Charly lieferten, wurde Günther K. schwer verletzt. Drei Vierzehnjährige warfen den Bewußtlosen in einen Teich, Günther K. ertrank. Die Täter wurden ausgeforscht und festgenommen. Mit der baldigen Schließung der Diskothek, die schon lang ein berüchtigter Treffpunkt jugendlicher Rowdies ist, wird man rechnen müssen.«

»Die kleine Andrea – Zögling im Kinderheim in K. – hatte wieder einmal in die Hose gemacht; zur Strafe mußte sie zwei Stunden lang – die schmutzige Hose über den Kopf gezogen – auf dem Gang stehen; alle anderen Kinder durften sie verspotten und hänseln: Andrea schämte sich so, daß sie heimlich die Klosterschule verließ und wegrannte. Zwei Tage später fand man sie, ausgehungert und halb erfroren, in einem Stadel. Andrea wurde nach ärztlicher Betreuung in ein anderes Heim gebracht.«

Meldungen dieser und ähnlicher Art häufen sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Die Bürger reagieren schockiert und entrüstet auf das, was Kinder und Jugendliche tun, auf das, was Kindern und Jugendlichen angetan wird; sie rufen nach mehr Zucht und Ordnung, nach mehr Strenge und nach mehr Polizei. Auch von den Fachleuten und Experten wird der Bürger allein gelassen, wenn es um die rechtzeitige Information über die grundsätzlichen Fragen der Eltern-Kind-Beziehung geht. Denn Erziehungswissenschaft findet – im Normalfall – hinter verschlossenen Türen statt.

Dafür, daß der Abgrund zwischen erziehungstheoretischem Anspruch und Erziehungswirklichkeit immer tiefer wird, gibt es natürlich noch eine Reihe anderer gesellschaftsbedingter Ursachen.

Der Wissenschaftler Horst Speichert etwa – um nur einen der vielen Experten zu zitieren – beschreibt ausführlich und eindeutig, was Kleinkinder an Zuwendung, an Kontakten, an mannigfachen Entwicklungshilfen unbedingt brauchen, stellt aber gleichzeitig fest, daß nur sehr wenigen Kindern diese Hilfen wirklich zuteil werden; als gesellschaftsbedingte negative Faktoren, die eine gute, frühkindliche Erziehung verhindern, nennt Speichert: die Trennung von Mutter und Kind im Krankenhaus nach der Geburt und bei Krankheiten, die Reduzierung der Familie auf eine Kleinfamilie, in der nicht genügend Erwachsene oder Kinder als Bezugspersonen zur Verfügung stehen, die Abwesenheit des Vaters während fast des ganzen Tages im Vergleich zur früheren Einheit von Werkstatt und Wohnung, die isolierte Rolle der Hausfrau mit all ihren Folgen an Unzufriedenheit, die sich auf die Kinderbehandlung auswirken, Schwierigkeiten, die sich aus der Berufstätigkeit der Frau ergeben, das veränderte Interesse an den Kindern.

Früher waren sie eine Art Versicherung für das Alter (für die Eltern), heute sind sie nur noch Objekt von elterlicher Liebe und stolzen Erwartungen sowie von Pflichterfüllung, die immer mehr vom Gesetzgeber erzwungen werden muß, sowie schließlich die Verringerung der Chancen zur Kommunikation durch zahlreiche Konsumangebote.

Die Liste Horst Speicherts bedarf der Ergänzung; als negative Faktoren, die eine differenzierte Kindererziehung erschweren oder verhindern, müssen noch aufgezählt werden: die angespannte ökonomische Situation der Armen, der Unterschicht und der sozialen Absteiger; weiters die krank machende, beengte Wohnsituation vieler Kinderreicher Familien – 1974 lebten immerhin noch 29 Prozent der österreichischen Familien mit mehr als vier Kindern in völlig unzureichenden Wohnungen oder Armutsquartieren, und entscheidend geändert hat sich deren Situation bis heute nicht.

Ein anderer erziehungsfeindlicher Faktor: die Zunahme der psychischen Erkrankungen und Störungen, die bei Erwachsenen u. a. durch Streß und Konkurrenzdruck – der das Arbeitsklima verschärft – hervorgerufen werden. Ein gutes Erziehungsklima wird auch verhindert durch die Angst um den Arbeitsplatz, unter der immer mehr Familienerhalter leiden.

Die Liste ließe sich fortsetzen.

Eines ist aber jetzt schon klar: Es ist wenigen Kindern gegönnt, die ersten paar Lebensjahre in einem Erziehungsklima zu verbringen, das die Theoretiker und Pädagogikexperten als »richtig«, »gut« oder als »ideal« bezeichnen würden. Das heißt konkret: Den meisten Kindern werden – oft vom ersten Tag ihres Lebens an – wichtige Entwicklungshilfen vorenthalten; die meisten Kinder müssen ohne das erforderliche Maß an Zuwendung, ohne lebensnotwendige Kontakte zu Bezugspersonen aufwachsen; nur wenige lernen, ihre Umwelt zu »begreifen« (das könnte der Wohnungseinrichtung schaden): man zwingt sie, sinnlose Normen einzuhalten; man erpreßt sie, indem man ihnen mit Liebesentzug droht; man schlägt sie und dressiert sie auf Wohlverhalten; für die Erwachsenen, die's nicht besser wissen, zuwenig Zeit für Kinder haben und sich mit eigenen Problemen herumschlagen müssen, sind Sauberkeit, Ordnung, Unterordnung und Gehorsam die wichtigsten Erziehungsziele; und nicht etwa Selbstbewußtsein, Vertrauen, Persönlichkeitsentfaltung und Glück.

Peter Pleuel interpretiert in seinem Buch »Kinder in Deutschland« eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen und stellt fest:

»Zwei Drittel aller Kinder erleben vor allem autokratische Erziehungsmaßnahmen durch ihre Eltern; auf Artigkeit, Gehorsam und Wohlerzogenheit legen drei Viertel aller Eltern den größten Wert.«

Mit dem Satz »Kindliche Selbständigkeit gilt bei uns noch immer als ein Laster, nicht als eine Tugend« charakterisiert Professor Wolfgang Metzger die Lage der Kinder in Deutschland, und es gibt keinen Grund, anzunehmen, daß es die Kinder in Österreich besser haben.

Der Primarius des Preyer'schen Kinderspitals in Wien, Professor Dr. Hans Czermak stellt fest, daß 98 Prozent aller Kinder psychisch und physisch gesund auf die Welt kommen: schon nach einigen Lebensjahren ist bereits jedes zweite Kind mehr oder weniger psychisch gestört und müßte behandelt werden.

Professor Czermak führt diese katastrophale Entwicklung auf die übliche, weitverbreitete Straf- und Prügelerziehung zurück, der viele Kinder schon ab dem ersten Lebensjahr ausgesetzt sind. Sehr früh also werden die Fundamente für die vielfältigen Fehlentwicklungen Jugendlicher gelegt: Jahre später zeigen sich die Folgen frühkindlicher Erziehungsdefizite deutlicher: Die Jugendlichen sind aggressiv, sie leiden unter Depressionen, unter Schul- und Existenzängsten, zeigen Leistungs- und Entscheidungsschwächen; sie unterwerfen sich selbstzerstörerisch rigiden Anpassungszwängen und entwickeln sich zu unglücklichen Außenseitern.

Nun – es wäre naiv, zu glauben, dieses kinderfeindliche Klima könnte man durch Aufklärung allein grundsätzlich ändern; man könnte es höchstens etwas verbessern. Der herrschende autoritäre Erziehungsstil ist nicht die Erfindung böser, dummer und gestreßter Eltern. Seine Wurzeln liegen tief in unserer Gesellschaft.

Schon vor Jahrzehnten haben Max Horkheimer und andere kritische Wissenschaftler nachgewiesen, daß zwischen kapitalistischer Produktionsweise und autoritärer Erziehung ein Zusammenhang besteht, daß die Familie in der bürgerlichen Gesellschaft die Funktion hat, die Verinnerlichung von Herrschaft zu garantieren.

Vor etwa zehn Jahren begannen politisch motivierte Gruppen, sich bewußt aus der Herrschaft dieser verinnerlichten Autoritäten zu befreien, und entwickelten auch Alternativen für die Kindererziehung. Vom Grundsatz ausgehend, daß repressive Erziehung nur dann überwunden werden könne, wenn Kollektiverziehung geleistet werde und nicht nur die Eltern für die Sozialisation ihrer Kinder verantwortlich seien, entstanden die »Kinderläden«.

Das Kollektiv – wir zitieren Monika Seifert – sollte den Kindern ermöglichen, Ich-Stärke zu entwickeln und die Fähigkeit, Interessen kollektiv durchzusetzen. Politisches Bewußtsein, Solidarität, Autonomie waren nicht als abstrakte Normen zu verstehen, sondern konnten von den Kindern anhand ihrer eigenen Situation (z. B. Schulkampf, Spielplatzaktionen und Wohnungskampf) zusammen mit Erwachsenen entwickelt werden.

An die Eltern erging die Forderung, eigene – auch unbewußte – Ansprüche an die Kinder zu revidieren und den Versuch zu machen, im Elternkollektiv eigene Defizite aufzuarbeiten. Die Grundhaltung war optimistisch, man glaubte, in relativ kurzer Zeit viel (alles) erreichen zu können.

Auch in Österreich gab es in den letzten zehn Jahren Bestrebungen, der konventionellen, autoritätsbezogenen Kindererziehung, wie sie in der Familie und den Kindergärten üblich ist, ein Alternativmodell gegenüberzustellen.

1971 wurde in Wien ein Kinderkollektiv mit dem Ziel gegründet, repressionsarme Erziehung zu leisten und die Kinder freier und glücklicher zu machen, als dies in bürgerlichen Institutionen möglich ist. Die Initiatoren erwarteten sich auch, daß die (positiven) Ergebnisse ihrer Arbeit Rückwirkung auf die offizielle, institutionalisierte Kindergartenerziehung haben könnte.

Karin Spielhofer, die maßgeblich an der Verwirklichung dieses Modells mitarbeitete, beschreibt die Erziehungsziele: »Im Kinderkollektiv soll das Kind Einstellungen und Verhaltensweisen erlernen, die ihm ein realitätsgerechtes Ausleben seiner Bedürfnisse ermöglichen sollen. Es soll seine Abhängigkeit von Personen so weit lösen können, daß es in seinen Aktivitäten und seinen Einschätzungen nicht wesentlich von ihnen eingeschränkt werden kann. Es soll eine soziale Offenheit erwerben, die ihm die Entwicklung einer vielfältigen Kommunikation mit seiner Umwelt und die Fähigkeit, sich mit Gleichaltrigen gegen Herrschaftsansprüche zu solidarisieren, ermöglicht. Es soll lernen, wie es seine emotionalen, erotischen und sexuellen Bedürfnisse befriedigen kann. Das Kind soll seine eigenen Reaktionen und die seiner Umwelt durchschauen lernen, damit es fähig wird, rational zu handeln und sich gegen irrationale Unterdrückung – von Erwachsenen wie von Kindern – zur Wehr zu setzen.«

Daß einem Alternativmodell mit solch hochgesteckten Zielen die öffentliche Unterstützung kaum zuteil wurde, erklärt sich aus der damals herrschenden und bis heute nicht veränderten Kindergartenpraxis, in der ganz andere Ziele verfolgt werden: Ordnung, Sauberkeit, Disziplin, die Integration in ein bestimmtes Normen- und Regelsystem sind die wichtigsten Prinzipien der offiziellen Kindergartenerziehung. Diese Prinzipien werden – indem man sich auf eine vage Gemeinschaftsideologie beruft – mehr oder weniger freundlich in den Kindergärten – die meist überfüllt sind – durchgesetzt. Die – vom Gesetz her geforderte – Zusammenarbeit mit den Eltern wird kaum praktiziert.

So sieht der Großteil der Eltern im Kindergarten eine Aufbewahrungsstätte, bei der man die Kleinen abgeben und später wieder abholen kann. Die Berufsausbildung der Kindergärtnerin ist realitätsfern und orientiert sich oft an fragwürdigen religiösen Traditionen und konservativen Leitbildern. Die meist überforderten Kindergärtnerinnen sind weder in der Lage noch hierfür ausgebildet, auf die individuellen Probleme ihrer Schützlinge einzugehen und gemeinsam mit den Eltern pädagogische Konzepte zu entwicklen.

Die Kinder werden mit Singen, Basteln und Malen beschäftigt, ihre Alltagsprobleme aber – angefangen vom Konsumverhalten bis zu Aggressionen gegenüber Schwächeren oder Gastarbeiter- und Unterschichtkindern – werden nicht aufgearbeitet. Die Einhaltung von Stundenplänen – gemeinsam wird die Jause eingenommen, gemeinsam haben sich die Kinder anzukleiden, gemeinsam sich auszuruhen – ist wichtiger als die Förderung individueller Initiativen. Das Durchsetzen eigener Interessen und – vor allem – das Verbalisieren eigener Bedürfnisse wird die Kinder nicht gelehrt.

Das Wiener Kinderkollektiv begann also seine Arbeit unter den schlechtesten Voraussetzungen: Es fehlte an Geld, an Räumen; voll Mißtrauen und Feindseligkeit beobachtete die Umwelt alle Aktivitäten. Freilich – die Ursachen, die eine kontinuierliche Entwicklung des Kinderkollektivs auf breiterer Basis verhinderten, lagen tiefer.

Karin Spielhofer schreibt nach dreijähriges Praxis: »Man muß realistisch sehen, was in einem solchen Modell in der Kindererziehung erreichbar ist; wohl eine Basisprägung der Persönlichkeit in den ersten sechs Lebensjahren, die den Kindern mehr Triebauslebung gestattet und weniger Angst in ihnen erzeugt – also die Grundlage für einen weniger autoritären, durchsetzungsfähigen Charakter legt. Dem entgegen wirken jedoch beständige Sozialisationseinflüsse in unserer Gesellschaft in Form von Normen, Wertungen, Rollenansprüchen, mit denen die Kinder konfrontiert sind und die sie beeinflussen. Von daher gesehen erweist sich der Versuch als Sisyphosarbeit, im Freiraum durch Erziehung den neuen Menschen schaffen, in einer kleinen Gruppe Engagierter mit minimalsten Ressourcen gegen die ganze Gesellschaft ankämpfen zu wollen. Eine gewisse Naivität war uns als zu Beginn der Projektarbeit nicht abzusprechen.«

Die Hoffnung linker Gruppen, mit Hilfe antiautoritärer Erziehung innerhalb kurzer Zeit Kinder selbstbewußt, selbständig und politisch bewußt zu machen, wurden enttäuscht. Viele Initiativen scheiterten daran, daß die Erwachsenen nicht in der Lage waren, ihre eigene Rolle zu definieren; deren Verhalten schwankte oft zwischen Gewährenlassen und autoritären Maßnahmen.

»Es fehlt das Bewußtsein« – so schreibt Monika Seifert –, »daß auch die Revolutionierung der Eltern-Kind-Erzieher-Beziehung ein langwieriger, Geduld erfordernder Prozeß ist. Der nicht ins Erziehungskonzept eingeplante eigene Widerstand und der der Kinder entmutigte die Erwachsenen und führte dazu, daß sich, wenn auch ungewollt – später auch gewollt –, wieder Wertvorstellungen und Normen einschlichen. Hießen diese auch Solidarität und politisches Bewußtsein. Da diese Begriffe nicht in der Lebenspraxis der Kinder verankert waren, mußten sie ihnen genauso als Über-Ich erscheinen wie der Elterngeneration Pünktlichkeit, Ordnung usw.«

Die linken Gruppen, deren Interesse an pädagogischen Fragen geringer geworden ist, reden heute nicht mehr viel von antiautoritärer Erziehung: Sie wissen, daß es nicht genügt, pädagogische Modelle zu entwickeln, die sich – bestenfalls – in Freiräumen, auf Inseln gleichsam, verwirklichen lassen. Doch schon lange vor den Kinderläden gab es Modellstudien und vor allem -versuche in Sachen Erziehung und Schule, die aus dem gängigen Rahmen auszubrechen versuchten.

Ob nun im »Kibbuz«, in dem Korczak'schen Modell Nasch Dom, das auf Kinderselbstverwaltung mit einem umfangreichen Gesetzeskatalog und Gruppengericht basiert, oder A. S. Neills Summerhill – nahezu überall setzte man eine funktionierende Gruppenstruktur voraus, um neue Erziehungswege zu gehen.

Der Erfolg ist überall fraglich. Bruno Bettelheim diagnostizierte 1969 bei den im Kibbuz erzogenen Jugendlichen Nützlichkeitsdenken, Initiativlosigkeit, geringes politisches Engagement, wenig Gefühl – und unsicheres Auftreten außerhalb der Gruppe. A. S. Neill wiederum errichtete bewußt eine ebenso repressions- wie realitätsferne Insel: »Es ist nicht meine Aufgabe, die Gesellschaft zu verändern, sondern wenigstens einige Kinder glücklich zu machen.«

Letztlich zum selben Ergebnis führte der Versuch von Maria Montessori (erste Schule 1907), eine Synthese von Gruppen- und Individualstruktur zu schaffen.

Alle diese Modelle mögen individuell durchaus Erfolge erzielt haben. Insgesamt konnten sie natürlich die gesamtgesellschaftlichen Umstände nicht aufheben, die für die Situation der Kinder hauptsächlich verantwortlich sind. Und diese Umstände drücken sich wiederum besonders im üblichen Schulwesen aus. Die Aufgabe der Schule ist es, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach Werten des »Wahren, Guten und Schönen« mitzuwirken. Wie auch immer Lehrer diese außerordentlich schwierige Aufgabe angehen – eine gehörige Portion Druck, Leistungsdruck, scheint zur Erreichung dieses hehren Ziels notwendig zu sein. Denn wie eine Seuche breitet sich die Leistungsangst unter den Schülern aus: Mehr und mehr Schüler laufen von zu Hause fort, weil sie schlechte Zeugnisse hatten; immer größer wird die Zahl der Selbstmorde und Selbstmordversuche von Kindern und Jugendlichen, weil sie Angst vor den Folgen schulischen Versagens haben.

Wenn es auch die offizielle Schulpolitik und die tägliche Schulpraxis – von wenigen Ausnahmen und Schulversuchen abgesehen – ignoriert: Die Forschungsergebnisse beweisen eindeutig, daß Angst den Lernwillen lähmt, jede kreative Regung erstickt und die Lern- und Lebensfreude verkümmern läßt. Die Angst der Schüler aber belastet auch die Lehrer, sofern sie sich trotz aller Anpassungsverpflichtungen einen kritischen Sinn für die Nöte der Kinder bewahrt haben und unter der ihnen aufgezwungenen Doppelrolle eines Pädagogen und eines Prüfers und Aufsehers leiden. »Angst«, so schreibt der Wissenschaftler Rainer Winkel, »ist eine von Menschen an Menschen vollzogene existentielle Bedrohung, das heißt, Angst ist prinzipiell vermeidbar; Angst schädigt das Verhalten des Betreffenden mehr oder weniger massiv.«

Muß man eigentlich lernen, muß der Schulbesuch immer mit Angst verbunden sein? Wir zitieren aus dem Manifest des Aktionskomitees für eine Angstfreie Schule: »Die moderne Lern- und Schulforschung hat die Unhaltbarkeit aller Versuche bewiesen, das traditionelle Unterrichts-, Prüfungs- und Bewertungssystem als notwendigen oder unvermeidlichen Antrieb zum Lernen zu rechtfertigen. Sie hat auch gezeigt, daß die Forderung an die Schüler, stundenlang stillzusitzen, sich kaum körperlich betätigen oder mitteilen zu dürfen, den psychischen, motorischen und sozialen Bedürfnissen der Kinder widerspricht, und daß es absurd ist, solche Verhaltensweisen mit angstmachenden Disziplinarmitteln von den Kindern zu erzwingen.

Untersuchungen haben weiter gezeigt oder bestätigt, wie verschiedenartig die Bedingungen sind, unter denen die Kinder ihre Hausaufgaben bewältigen müssen: die räumlichen und familiären Verhältnisse, vor allem aber die persönlichen Hilfen, die die Kinder zu Hause erhalten oder nicht erhalten können. Trotz dieser Einsichten werden auch Hausaufgaben bewertet und bringen den einen Vorteil, den anderen wiederum Angst.« Welche Kinder am meisten Angst vor der Angst haben müssen, liegt auf der Hand: Es sind die Kinder aus Problemfamilien, aus unvollständigen Familien, es sind die Kinder der Armen und der Absteiger, es sind jene Kinder, die ohnehin schon gestört und benachteiligt sind. So sind die Rollen vorgeformt, die Kinder und Jugendliche nicht so sehr zum eigenen Wohl, vielmehr zum Wohl der Stärkeren, der Besseren zu erfüllen haben. Wer seiner Rolle nicht gerecht wird, scheitert; wer aufmuckt, hat es zu büßen.

So ist es die Angst, die manche flüchten läßt aus dieser fremdbestimmten Welt, in der Begriffe wie Glück, Selbstfindung, Selbstbestimmung und Selbsterfahrung verpönt sind; sie flüchten aus Angst in die Scheinwelt, die von cleveren Freizeitmanagern gewinnbringend verwaltet wird, in die Welt, die immer neue Wünsche und Bedürfnisse weckt, ohne diese je zu befriedigen; sie flüchten sich in den Rausch, sie werden – wie man sagt – auffällig.

Nun, Eltern der Oberschicht können sich – falls ihre Kinder Auffälligkeiten zeigen – bestimmt eine Reihe von Therapiemöglichkeiten – eine längerfristige, individuelle Behandlung etwa – leisten. Außerdem sind sie kraft ihrer gesellschaftlichen Stellung meist in der Lage, ihr Kind vor dem Zugriff des Jugendamtes, der Fürsorge zu schützen – nicht immer ein Vorteil für das Kind – und behördliche Maßnahmen abzuwehren. Für die schwierigen, die schwierig gemachten Kinder minderbemittelter Eltern, für die Kinder der Unterschicht gibt es derartigen Luxus nicht. Für die gibt es Massenabfertigung – und das zwangsweise: Sie werden einfach in Heime gesteckt. Sie werden getestet, beurteilt, verurteilt, registriert, isoliert, abgeschoben, sie werden amtsbekannt. Über die Zustände in den Heimen ist genug geschrieben worden. Bekannt ist, daß der Hospitalismus eine offenbar nicht auszurottende Seuche ist, die in vielen Kinderheimen grassiert.

Bekannt ist ferner – und zum Teil durch Forschung belegt –, daß die meisten der groß angekündigten Reformen entweder nicht oder inkonsequent durchgeführt wurden. Ebenso bekannt ist, daß Erzieher und Heimleiter unter Erfolgsdruck stehen und schon deshalb Angst vor Änderungen und Reformen, vor mehr Freiheit und Mitbestimmung haben. Sie sind in der Situation von Feuerwehrleuten, die ein paar Stunden zu spät zur Brandstelle gerufen werden: Sie können Brände nicht löschen, schon gar nicht verhüten. Die Brandleger waren längst vor ihnen da. So ist die Lage der Erzieher und Heimleiter meist aussichtslos; aber das ist nicht deren Problem allein, das ist ein Problem der Gesellschaft. Ich hatte einmal Gelegenheit, mit Kindern, die von ihren Eltern mißhandelt worden waren und deshalb in ein Heim eingewiesen wurden, zu sprechen. Die Kinder – still, sauber gekleidet und höflich – erzählten von sich, von ihren Schuldgefühlen den Eltern gegenüber und daß sie alle viel lieber zu Hause wären als in diesem Heim.

Kinder werden in vielen Heimen eben aufbewahrt, man gewöhnt sie an Ordnung, Regelmäßigkeit und bringt ihnen gutes Benehmen bei. Und wenn's nottut, bekommen sie Medikamente, damit sie nicht so nervös sind. Wer aber gibt den Kindern, was sie wirklich brauchen? Heime sind bis heute – im besten Fall – Notlösungen. Fortschrittlich kann man sie erst dann nennen, wenn einmal Kinder und Jugendliche in Scharen von zu Hause fortlaufen und in Heime übersiedeln, weil sie es dort schöner und besser haben als daheim.

Wir werden allerhand zu hören bekommen in diesem Jahr, im Jahr des Kindes! Hochkonjunktur werden jene haben, die Geschäfte damit machen. Schließlich wird man auch Bücher, Studien und Forschungsberichte drucken; Platz ist noch genug in den Amtsregalen und Büroschreibtischen. Über das Jahr des Kindes werden sich also viele Zeitgenossen freuen – am allerwenigsten allerdings die Kinder: Die sind – erstens – an und für sich undankbar und – zweitens – gar keine Zeitgenossen, sondern lediglich Unmündige, Minderjährige, Schulpflichtige, also keine ernst zu nehmenden, vollwertigen Gesprächspartner.

 

top